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einhorn insel der seligen

Wir sind uns ein Rätsel



Wo geht die Reise hin? Du hast einen Plan. Nachdenkend verändert er sich. Neue Bilder kommen hinzu. Neue Stimmen melden sich, erst leise, dann lauter. Irgendwann ist es genug. Aufbruch.

Du hast mich in diesen Raum geführt. Eine Bücherwand, nicht sehr üppig gefüllt. Ein langer Tisch, an dem zwei arbeitende Menschen sitzen, eine Frau und ein Mann. Er ist mit einem Stapel Seiten beschäftigt. Er schreibt mit der Hand. Er hat Bücher benützt und weggeschoben. Die Frau sitzt in einem rosa Kleid, das wunderbar mit der blauen Polsterung ihres Stuhles harmoniert, vor einem geöffneten Laptop, daneben liegt ein Handy. Wir sind also in der Gegenwart. Doch dadurch wird es nicht leichter, zu verstehen, was hier geschieht.

Mich irritiert, dass auf dem Tisch ein Leuchter steht mit sieben brennenden Kerzen - wenn ich richtig zähle. Der Schreiber trägt eine Kippa.

Bin ich in einer Bibliothek?

Ein privater Raum wird es auch deswegen nicht sein, weil die Wand hinter der Frau offenbar aus Glas besteht und sich draußen viele Menschen versammelt haben. Sie könnten beobachten, was sich drinnen abspielt, tun es aber nicht. Statt neugieriger Gesichter sehe ich bedeckte Köpfe und Schultern. Von hinten. Lauter Hauben, Kopftücher, Hoodies, Turbane. Alle wirken wie in sich selbst versunken, vielleicht andächtig lauschend …

Plötzlich verschwindet das Glas vor meinen Augen und wird zu einer normalen, lediglich mit einem eigenwilligen Tapetenmuster gestalteten Wand. Ich habe nämlich nicht nur knapp über dem Boden einen Stecker in der Steckdose entdeckt, das Kabel versorgt den Computer mit Strom.

Weiter oben hängen ein großes Gemälde und zwei Schwerter, eine Puppe in weißem Kleid, darüber ein schwarzer Umhang, und eine Kerze, so hoch, dass sie nur mit einem Anzünder an einer Stange angezündet oder mit einerm entsprechend langen Löschhorn gelöscht werden kann.

Was sehe ich hier wirklich?

Ich gehe noch einmal zurück.

Ich blicke von oben in einen riesigen Raum mit einem sehr langen Tisch, aber nur zwei Personen sitzen da und arbeiten, jede für sich. Alles ist hell erleuchtet, so dass mir der Leuchter mit seinen Kerzen wie Dekoration vorkommt. Auch die überwiegend leeren Bücherregale scheinen Kulisse zu sein. Mir fällt dazu ein, dass selbst heute im totalen digitalen Zeitalter manche Promis - vor allem aus Wissenschaft, Kultur und Politik sich gern vor dem Hintergrund eines Bücherregals interviewen lassen. Doch diese Regale sind zum Bersten gefüllt (obwohl niemand glaubt, dass der Interviewte all das tatsächlich gelesen hat).

Ich stelle mir vor, dass der Mann einen privaten Brief schreibt, weil er sich keines Computers bedient. Vielleicht hält er Gedanken, die ihm gerade gekommen sind, in Stichworten fest. Oder ist er aus der Zeit gefallen mit seiner Kippa und dem eng umwickelten Hals - ist da nicht auch seitlich am Kopf eine schwarze Locke? Schreibt er an einer Bibel-Auslegung, einer Predigt?

Die Frau, obwohl sie ihm gegenüber sitzt, beachtet ihn nicht. Ich meine, Kopfhörer an ihr entdeckt zu haben. Sie scheint sehr beschäftigt. Aber natürlich muss das nichts Geschäftsmäßiges sein. Gerade kam mir der kühne Gedanke, dass beide sich zufällig in diesem Raum begegnet sind, mehrmals schon, weil beide intensiv an etwas arbeiten, und begonnen haben, sich sympathisch zu finden. Nun schreiben sie sich gegenseitig verschlüsselte Texte, die eigentlich Liebeserklärungen sind.

Bleibt noch diese Wand, die mir Kopfzerbrechen macht.

Man kann auch in einer Glaswand eine Steckdose einrichten und eine Stromleitung legen. Ebenso kann man Aufhängungen anbringen.

Auf dem Gemälde glaube ich ein Paar zu erkennen. Die Schwerter könnten bedeuten: Hier wird nicht gekämpft, aber wir hängen hier, um daran zu erinnern, dass es Kämpfe gab und gibt, die Leid und Tod mit sich bringen. Weder dem Paar am Tisch noch dem Paar auf dem Bild traue ich zu, die Schwerter abzuhängen und damit aufeinander loszugehen. Höchstens, wenn sie Fechten als Sportart betreiben.

Die Puppe erinnert an einen Geistlichen. Die einzelne Kerze - ist sie ein sogenanntes Ewiges Licht?

Ich bin nicht schlauer als zuvor, trotzdem möchte ich an der Durchsichtigkeit dieser Wand festhalten. Dort draußen sitzen oder kauern viele, viele Menschen, die ihr Gesicht nicht zeigen (ich könnte mir vorstellen, dass sie es zusätzlich hinter einer Maske verbergen). Keiner dreht sich um. Wird man dafür bestraft? Hat man Angst etwas zu erblicken, was das bisherige Leben in Frage stellt? Will man einfach das machen, was alle machen?

Ich habe das Gefühl, dass sich hier ein unüberschaubarer Raum auftut.

Dasselbe empfinde ich auch für den Innenraum. Dieser Tisch könnte unsagbar lang sein, viele andere könnten daran sitzen (wiewohl vereinzelt) und Seiten oder Dateien füllen mit ihren Entdeckungen, ihre Gedanken anderen mitteilen - auch wenn die Welt draußen sich nicht darum kümmert und diesen tätigen Geistern den Rücken kehrt. Wenn es so etwas gibt wie Fortschritt, ist er immer von einzelnen Menschen ausgegangen und anfangs von der großen Masse ignoriert oder bis aufs Messer bekämpft worden. Dieser Tisch ist also so lang wie die Zeit der Menschen auf diesem Planeten, und die leeren Regale werden sich langsam mit immer neuen Schriften und Büchern füllen. Dabei spielt die Verschiedenheit der Religionen keine Rolle. Stets bleibt der Blick nach draußen gegenwärtig, die Hoffnung, dass auch diese Mehrheit der stets Wegschauenden sich eines Tages auflösen und die interessanteren und schöneren Seiten des Menschseins erkennen wird.



(Gemalt von Emma Kaniß)

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