

Flüchtiges Glück
Er hält sich für einen Engel. Immer noch. In einem lichten Augenblick hat er angedockt an einem Rebstock und seinen Schwanz darum geringelt. Er findet es beruhigend, wenn sein Hinterkopf den Stamm der Pflanze berührt. Er ist ein ehrlicher Säufer geworden. Obgleich man sagt, dass Säufertum sich nur aus Bier- und/oder Schnapskonsum ableite. Wer in diesem Raum sitzt oder kniet, kennt bestimmt das schöne Wort Dimpfl. Immer in seinem Leben hat er alle Sachen ernsthaft betrieben. N


Es ist angerichtet
Ein Tisch ist ein Tisch. Soweit bewegen wir uns auf sicherem Boden. Vor uns steht ein ehrlicher, regen- und hitzeerprobter Garten- oder Terrassentisch. Mit einem Ei. Die Rillen in der Tischoberfläche haben eine gewisse Bremswirkung. Denn, ob roh oder gekocht, ein vom Tisch gerolltes Ei will niemand mehr haben. Sollte es sich um ein bereits bebrütetes Ei handeln, so hilft ein Sturz, der die Schale zerbricht, dem Küken keineswegs beim Ausschlüpfen, es wird immer zu früh oder zu


Baiser imminent
Ein standardisiertes Paar. Eben sind sie sich gegenüber getreten. Gleich wird sich etwas ereignen. Wichtig beim Paarbetrieb ist die Angleichung in Sachen Mode. Variationen über identischer Basis sind wesentlich. Schwarz-Weiß, ein Schuss Rot. Kringel gegen keine Kringel. Kette gegen Kravättchen. Aber nur ein Herz. Die Augen stimmen so gut wie überein. Bei den Öhrchen ein Hauch von Abwechslung. Münder: schwer zu unterscheiden. Die Nasen, sagen wir: spiegelbildlich. Aber die Kop


La Belle et la Bête
Ein Mauerloch. Wenn du es beanspruchst, nisten dort keine Vögel mehr. Aber Traumbilder. Eine Nische. Du brauchst sie so dringend wie all die anderen, nur würden sie es nie zugeben . Figuren. Sie liegen in der Gosse. Kinder werfen weg, was sie nicht mehr brauchen. So wie du und alle Erwachsenen. Aber nur, was von Kindern stammt, geht dich an. So ist sie entstanden: die Blaue Grotte. Die Schöne trägt jungfräuliches Weiß und ist in etwas vertieft, was sie gerade mit Leibwäsche z


Zifferblatt
Jemand hat die Zeit zurück gelassen, hat sie allein gelassen. Stumm und starr blickt sie dich an, als wärst du ein Spiegel. So unbeweglich, wie sie geworden ist, strahlt sie Würde aus, sogar Schönheit. Wie eine einbalsamierte, im Schauhaus ausgestellte Leiche. Ein letzter Gruß, um die Erinnerung zu befeuern. Mächtig war sie und immer präsent. Die Ziffern leuchteten auf Geheiß der Zeiger im Wechsel auf, eine jede war verbunden mit Auflagen und Aufgaben, jede forderte Aufmerksa


Kurzer Prozess
Genau so läuft es ab. Ein Virus dringt in den Körper ein und bringt dort alles durcheinander, indem es den Zellen seinen Willen aufzwingt. Es braucht keine Fortbewegungsorgane (Flügel, Flossen, Gliedmaßen) und keine Waffen (Zähne, Stachel), um die geeigneten Zellen zu finden und in sie einzudringen. Das ist das einzige Problem der Viren: die richtigen Zellen zu finden. Alle anderen lassen sie von sich abprallen. Aber keine Entwarnung! Sie finden unfehlbar ihr Ziel. Die Viren


Ein Herz und keine Seele
Zwei Hände, zehn Finger, romanhaft rosa, formen ein Herz, schweinchenfarbenes Glück. Mitten im Formlosen ein Lichtblick. Oder? Das Herz selbst ist schwarz. Die beiden Zeigefinger lassen nämlich eine kleine Lücke, durch die die Nacht eindringt. Das Herz ist aus dem Stoff der Nacht, eine Ausstülpung von schwarzer Materie. Die Nacht ist auf einmal Herz geworden. So hat es der Sprayer wohl gewollt. Noch Fragen? Sind es zwei Hände derselben Person, die das Herz erschaffen? Es sind


Eustach oder Hubert
Im Grabstein spiegeln sich die Stämme des Waldes. Im Grab liegt ein Jäger und jagt nicht mehr. Der Jäger hat am liebsten Hirsche erlegt. Soundsovielender. Alles andere war ihm zu gewöhnlich. Einen Hirschen aber, dem ein Kreuz aufwuchs aus dem Hirn, hat er sicher nicht erbeutet. Auf seinem Grabstein darf er einen solchen Kreuzhirschen wenigstens in die Ewigkeit mitnehmen. Ein Hirsch mit einem Kreuz, der soll den heiligen Hubertus bekehrt haben. Und zwar mitten im Wald, der dam


Ende eines Traums
Mein Traum war es nicht. Ich habe diese Lampe aufgehoben, um nicht zu vergessen. Ich habe sie geerbt, hatte keinen Platz für sie, hängte sie schließlich in ein sozusagen zufällig entdecktes, noch freies Dübelloch in der Decke, schloss sie nicht an. Sie hing einfach da, funktionslos, in einem Winkel der Wohnung, wo sie nicht störte, aber trotzdem jederzeit sichtbar blieb, wenn mein Blick darauf fallen wollte. Meine Mutter erzählte gerne, wie sie diese Lampe sich absparte vom H


Sangre de Primo
Blut an den Mauern der Kathedrale. Überall Blut. Das Blut von Hunderttausenden. Es rinnt zum Abwasser in die Gosse. Oder es stockt und macht den Boden fleckig. Für dieses Blut gibt es keinen Ersatz. Die Toten werden nicht wieder lebendig. Primos Blut ist es nicht. Primo wurde wegen staatsfeindlicher Umtriebe und Vorbereitung eines gewaltsamen Umsturzes verurteilt und hingerichtet. An die Wand gestellt. Erschossen. Eine kleine Wunde, durch die nur wenig Blut austrat. Wenig spä