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einhorn insel der seligen

Notre Dame de la Garde



Man wollte ein Zeichen setzen. Spitzer Turm, spitzer Dachstuhl. Die Spitzen zeigen zum Himmel. Da soll etwas herunter kommen. Kein Manna. Rat soll uns werden, Trost vielleicht.

Der Bau steht auf abfallendem Grund, wie auf einer Rampe. Muss gut im Boden verankert sein, mit Fundamenten im Unterbau. Die Leute merken, dass dieses Kirchenschiff auf einen Start wartet, auf einen Flug die Steilküste abwärts. Einen Flug in den Schiffbruch, in die Katastrophe. Kann man so ein Gebäude, das seinen Selbstmord impliziert, ernst nehmen?

Die Erbauer nahmen es ernst.

Recht betrachtet ist es nämlich so, dass zwar die imaginäre Startrampe zur Kante der Steilküste hin abfällt, der Bug des Kirchenschiffs aber nach oben zeigt. Geradewegs auf die Weite des Horizonts, auf den Himmel. Wie Turm und Dach.

Die Pilger sind von weither gekommen, sie scharen sich um die Kapelle, zeigen ihr und sich selbst, dass sie ernst genommen wird. Die meisten drängen sich direkt vor der Fassade. Die Augen wandern bewundernd vom niedergetretenen Gras aufwärts zur Spitze des Türmchens, lassen es hinter sich und verlieren sich in gedachter Unendlichkeit. Sie sind sicher: nach oben, aufwärts geht der Flug. Wie gerne wären sie dabei.

Darf jemand mit?

Die, die an die Wahrheit glauben und - nicht zu vergessen - die, die die Wahrheit besitzen und sie freigebig mitteilen. Denn Eigentum verpflichtet.

Eine einzige Kapelle genügt nicht, um herauszufinden, was Wahrheit ist und wo sie sich mitteilt. Das ist leider so.

Wer aber viel besitzt, der besitzt wahrscheinlich auch viele Wahrheiten. Mit den Besitzenden muss man sich gut stellen. Sie können einem leicht den Boden unter den Füßen wegziehen - und man stürzt.

Die Kapelle kann das nicht, tut das nicht. Aber, sie betrachtend, spürt man den Abgrund ein paar Schritte hinter sich.

Ein Fitzelchen Wahrheit braucht man, um nur an sich selbst zu glauben. Man fasst sich an die Nase, streichelt sich übers Haar. Bingo! Das bin ich. Da bin ich.

Und weiter?

Hier die Kapelle, erbaut an einem unwirtlichen Ort, der Unendlichkeit oder dem Nichts gegenüber,

Hier die Kapelle, Einladung zur Umkehr für Selbstmörder. Ein Tempel aus Stein, ein Sinnbild von Sinn, eine Besitzerin von Wahrheit.

Hier die Kapelle. Meist sind die Türen verschlossen.


(Foto: Gisi Müller, Nürnberg)


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