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einhorn insel der seligen

Löwenträume



Fliegen - ein Traum, den alle Löwen träumten, seit es Löwen gab. Ein so hochgestelltes Tier, ein König nicht nur im Märchen, unangefochten und unanfechtbar (letzteres allerdings nur im Traum), will stets noch höher hinaus, will sich den Rivalen mit ihren ständigen Anfeindungen elegant entziehen, genau wie den eigenen Kindern, die knurren und murren, wenn er sie streng mustert und ihnen Mores beibringen will. Vom manchmal lästigen Harem zu schweigen.

Er will nicht nur Giraffen, sondern alle Beutetiere aus weiter Ferne ausmachen, seine Jagd spektakulär ausweiten.

Träume gehörten zum wirklichen Leben wie der Harem zu einem König, das lehrte die Wissenschaft, auch die löwische, wiewohl die Erfahrung daran zweifeln ließ. Denn die Träume ähnelten den Ereignissen im Wachzustand nur schemenhaft und dass Träume etwas Zukünftiges voraussehen konnten, wie andere Tiere erzählten (etwa erging sich der Bär, der alte Schwätzer, mit Vorliebe in nicht enden wollenden Spekulationen), daran mochte der Löwe nicht glauben. Doch allmählich, als auch seine Frauen ihm von Schwangerschaften erzählten, aus denen die im Traum vorausgesagte Kinderzahl (sogar einmal Sechslinge) hervorging, oder von einem Krokodil, auf das man aus Versehen getreten war und das kopflos die Flucht ergriff, statt herzhaft zuzubeißen, solche Sachen), begann der König zu grübeln. Die Frauen mussten zugeben, die Hyänen befragt zu haben, die selbsternannten Schamanen der Savanne. Dieser Umgang wurde den Löwinnen sofort untersagt. Ausgerechnet die Hyänen! Der König hasste ihre stinkenden Markierungen, die sie an jedem Busch anzbringen schienen, wie ihm zum Hohn. Außerdem schlichen sie sich manchmal nachts ins Camp und verputzten die Reste der Beute.

War er im Traum vielleicht zu unaufmerksam gewesen, sinnierte der Löwe, und hatte deswegen eine von Zeit zu Zeit wirksame prophetische Kraft seiner Träume übersehen?

Als er nach einiger Zeit wieder einmal vom Fliegen träumte, war er auf ein exaktes Erinnern vorbereitet und riss sich zusammen.

Ein simpler Sprung reichte nicht, um vom Boden abzuheben, das war ihm klar, aber als er sich wie in der Vergegenwärtigung seines Traums oben an einem Steilhang stehen sah, da gruselte es ihn doch. Im Traum flog er bis zum Horizont. Mit Hilfe seiner Mähne, die sich weit abspreizte, konnte er sogar segeln.

Der Löwe beschloss, seinen Traum mit wissenschaftlicher Strenge zu überprüfen.

O weh! Ein Desaster. Die Mähne, auf die er so stolz war, weil sie beim weiblichen Geschlecht sehr viel hermachte, versagte total, blieb störrisch im Nacken und auf dem Rücken liegen, ja klebte dort förmlich fest.

Und ein Sprung von einem (vorsichtshalber) niedrigen Geländeabbruch trug ihn nicht einmal eine Schwanzlänge weit, und er tat sich bei der unfreiwilligen Landung weh, humpelte ein wenig. Dummerweise erfuhr auch der Harem von diesen Experimenten und lachte sich (hinter vorgehaltener Pranke) schief und krumm.

Er gab auf und achtete seine Träume nun lange Zeit gering.

Bis er wieder vom Fliegen träumte.

Diesmal brauchte er weder Mähne noch Abgrund.

Ein Raubvogel packte ihn unangemeldet am Nackenfell und hob ihn ungeachtet seines Gewichts mit sich hoch in die Lüfte. Die gewaltigen Klauen, die sich in ihn hineinbohrten - er spürte sie sehr deutlich, aber empfand keinen Schmerz. Nach einem Rundflug über seinem Revier wurde er sanft abgesetzt. Als er sich umdrehte, um sich bei seinem Flughelfer zu bedanken, sah er ihn überhaupt erst: üppiges Gefieder, kohlschwarz, dazwischen weiß bepunktet, sehr dicht; es bedeckte sogar die Läufe und den Kopf, so dass der Schnabel fast darin verschwand. Vorübergehend glaubte er, einen Katzen- oder Bärenkopf wahrzunehmen. Das verwirrte ihn, so dass er, wieder im Wachzustand, sich nicht erinnern konnte, wie der Traum weitergegangen war.

Als er die Augen aufschlug, war sein erster Gedanke: Wie kann mich diese dubiose Zwerggestalt so problemlos durch den Äther tragen?

Weiter kam er nicht.

Einer seiner besonders aufsässigen Rivalen sprang hinter einem Busch hervor und ging auf ihn los. Bodycheck. Rums. Plumps. Ein Stoß genügte, um den alten König umzuwerfen. Auf dem Rücken liegend und mit den Beinen strampelnd bemerkte er, dass sein Harem zusah und sich offenbar gut dabei amüsierte.

Der Rivale war jetzt über ihm.

Plötzlich wusste er, was der Traum zu bedeuten hatte.



(Kunstobjekt von Michaela Ranzinger)


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