
Karlchen hockte dem Papa im Genick. Beide waren lange Zeit nicht zum Zähneputzen gekommen und nützten die Gelegenheit des windstillen Verschlags, in den es sie verschlagen hatte, zum Auslüften der Mundhöhle. Von ferne sah es aus, als würden sie schreien, doch es herrschte Totenstille, und zum Schreien bestand vorerst noch kein Anlass.
Papa war ein Avatar, seine stumpfbogigen Ausläufer an der Schädeldecke sahen dem Hirschberg zum Verwechseln ähnlich. Papa war ein Hüne, er sprengte jeden möglichen Bildausschnitt. Mit seinem Karlchen verstand er sich gut, sagte er, während Karlchen sagte, nichts wünschte es sich mehr, als rasch erwachsen zu werden und dem Papa zu entwachsen..
Papa war gerade dabei, den Fluss, die Weißach, zu durchschreiten mit dem Kindlein auf den Schultern, als sich dieses und jenes ereignete.
Dieses: Eine dreischwänzige Krokoschlange glitt unwiderstehlich über Papas Rücken und Karlchens Kopf. Mit ihrer affenähnlichen Hand ergriff sie einen jungen Sufi-Gelehrten, hielt ihn fest und widmete ihm deutliche Worte des Zorns: Fort mit dir, Verwegener! Das ist unser Fototermin! Um halb siebzehn Uhr unter dem Maibaum - dann ins Batznhäusl!
Jenes: Der Sufi grinste verschlagen statt verlegen, Er begann Bart und Haar heftig hin und her zu schlenkern. Seine hundert Perlen mit den Namen Allahs waren allerdings eingeklemmt, und der im Schraubstock von Krokos Affenhand gefangene Unterleib blieb in Haft, seine Aufsässigkeit kostete Kroko jedoch viel Kraft.
Karlchen ächzte unter dem schweren Schlangenleib. Er klapperte mit seinen Stoßzähnchen, um dem Papa zu signalisieren, er solle gefälligst etwas machen. Schließlich war Papa ein Avatar und ein Hüne dazu.
Papa, mach! Die Krokokiefer knapsen dem Sufibubi die Nase ab!
Da geschah noch etwas. Das ganze Bild fing an zu wackeln. Es fügte sich ein ins Wackeln des Fotografen, dieser folgte zwanghaft dem Wackeln des Verschlags. Kein Wunder, denn der Tegernsee schwappte über. Am Gmunder Berg, wo die Auffahrt zwischen steil und immer noch steiler pendelte, bildeten sich lange Staus spotzender SUVs auf der Flucht. Die Krokokiefer knirschten, sie hatten sich zu weit geöffnet, eine Sperre war eingetreten. Der Sufi-Gesang verebbte, die Hand löste sich, die Perlen begannen zu klackern.
Doch Allah schwieg.
Die Geschichten gingen natürlich weiter, die kleine wie die große.
Die große: Das vom Minister-Präsidenten persönlich angeordnete erste Fracking im Freistaat ging von den uralten Penzberger und Peißenberger Stollen aus und sollte in Richtung des Granit-Abbaus in Hauzenberg vorangetrieben werden. Als der oberste Gas-Flöz beinah erreicht war, brachen die unterirdischen Welten ein. Da ging überall der Strom aus (außer in Franken, das sofort die südlichen Grenzen schloss). Wie auf Kommando standen zugeich alle altbayerischen Windräder still, ihre Befürworter sahen sich bis auf die Knochen blamiert. Doch da die sozialen wie die asozialen Medien bald nicht mehr liefern konnten, blieb ihnen öffentlicher Tadel erspart.
Bald waren auch die letzten, zu Fuß flüchtenden Ober- und Niederbayern in den überall aufklaffenden Spalten und Rissen der Erde verschwunden. Franken würden das leere Land der Moränen zwischen Donau und Gebirg später besiedeln können. Die obere Pfalz unterwarf sich bedingungslos dem Know-how des westlichen Nachbarn.
Die kleine: Sowie der Sufi wieder richtig atmen konnte, begann er mit neuen Litaneien. Karlchens Papa, der sowieso bereits in einer Doline gestanden hatte, verschwand sausend in der Tiefe. Karlchen konnte, sich zur Seite rollend, von unter dem Reptilienleib herausarbeiten. Er war zu sehr geschwächt, konnte nicht fliehen und musste mitansehen, wie der heroisch-theologische Singsang und die schwindelerregenden Drehungen des nunmehr befreiten Tänzers durch das Maul der Kroko-Schlange in deren Körper eindrang und dort eine dem Fracking ähnliche Verwirrung der Organe anrichtete. Das heißt, er sah es natürlich nicht, er beobachtete die schmerzhaften und zuletzt tödlichen Verkrümmungen des Raubtiers, eine bizarre Art der Verehrung des Höchsten Wesens. Bei der hundertsten Perle sank der Sufi zu Boden und sang nicht mehr.
Allah schwieg dazu.
Ein drittes geschah nicht.
Viele Generationen nach Karlchens Ableben waren seine Ritzzeichnungen, die er mit letzter Kraft auf die Wand des Verschlages kratzte, noch teilweise lesbar. Halb waren sie theologisch aufgeladen, halb ein simpler Gruß mit einem guten Wunsch an Unbekannt, wie eine Flaschenpost aus dem Chaos.