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einhorn insel der seligen

Entschwebende



Sie und er, ist man versucht zu sagen.

Sie, die viel größere der beiden Figuren, scheint eindeutig als weiblich gekennzeichnet: durch die unübersehbare fortgeschrittene Schwangerschaft, aber auch durch das üppig fließende Haar.

Er ist dagegen nicht spontan dem Männlichen zuzuordnen. Da ist die beinahe lächerliche Kleinheit. Da sind seine Gliedmaßen, die sich zu Flügeln ausgewachsen haben. Dennoch - kein Vogel? Insektenflügel?

Das Gesicht ist menschlich.

Sie und er - kein guter Anfang.

Was geht hier überhaupt vor? Etwas, wovor mir graut. Diese liegende Figur mit ihren tiefen Fleischwunden an Oberschenkel und Unterarm, der Oberkörper eng verschnürt, so dass Atmen kaum mehr möglich scheint, ein zerstörtes Gesicht - ein Schreckensbild. Eine Frau, in schlimmster Weise misshandelt, gedemütigt und am Ende buchstäblich weggeworfen. Ja, wird sie nicht sogar ausgeweidet von diesem Tiermenschen über ihr? Ein Albtraum.

Im Krieg der Geschlechter sind Frauen sehr oft die Opfer, die Opfer von Männern. Selbst dann, wenn die Männer untereinander Krieg führen (was die Regel ist). Hier hat der menschliche Kopf des fliegenden oder schwirrenden Ungeheuers die Attacke nicht nur erdacht, er ist auch das ausführende Organ. Er hat begonnen, die Frau aufzufressen.

Hilfe! Wie werde ich diese Eindrücke wieder los?

Ich sage mir: Was ich sehe, ist nicht Naturgesetz, sondern ein extremer Ausnahmefall. Selbst wenn das stimmte, wäre es kaum tröstlich. Grübeln hilft nicht.

Das Seltsame ist, dass die Frauenfigur schwebt. Sie hat ja keinen Flugapparat wie das Wesen über ihr. Könnte sie eben erst den Boden verlassen haben? Sie liegt waagrecht in der Luft, so wie sie auf der Erde gelegen hat, hilflos, wehrlos … Tot?

Nimmt das Wesen über ihr sie mit auf eine Reise mit unbekanntem Ziel? Eine Rettung? Oder wenigstens: eine Bergung? Und vielleicht: eine Erlösung?

Dann ist ein Riemen oder Gürtel das Bindeglied, das die Frau vom Ort ihrer Qualen entführt.

Doch wer ist der Entführer?

Engel sind menschenähnliche Wesen, die sich fliegend fortbewegen. Ihre Aufgaben und der Zweck ihrer Einsätze sind wohltätiger Natur. An Engel habe ich sofort gedacht.

Allerdings war der alte Luzifer auch ein (gefallener) Engel.

Der mutmaßliche Engel kann das Leid der Frau nicht beseitigen. Er kann sie anderswohin bringen, sie weiterer Willkür und Gewalt entziehen.

Man kennt manche uralte Geschichte von Menschen, die in den Himmel gehoben und in Sternbilder verwandelt wurden: Sünder aus Übermut oder Stolz, die man aus dem Verkehr ziehen (Orion, Kassiopeia), aber auch Helden, die man auszeichnen wollte (Herkules).

Eine Geschichte, die auf diese schwer gezeichnete Frau passen würde, fällt mir nicht ein.

Ich bleibe aber in der Vermutung, dass das Schweben, der Aufenthalt in einem dem Menschen unzugänglichen Raum, etwas Positives bedeuten kann, dass es ein Gegenbild zum ersten Eindruck menschen- und vor allem frauenverachtender Gewalt zum Ausdruck bringt.


Es ist ja auch so, dass Gewalt und Willkür allgegenwärtig sind und man besser nicht die Augen davor verschließen sollte. Zumal die Verantwortlichen alles tun, um zu beschönigen und zu verharmlosen.


Und ich weiß: es ist eine Puppe, die ich vor mir habe und die mir vor Augen führt, was ich hoffentlich noch nie gesehen habe und auch niemals sehen will.

(Kunstobjekt von Lea Preisl)

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