
In einem Augenblick öffnet sich die Tür, ihre beiden Flügel klappen nach innen auf, ein unwiderstehlich starker Sog entzieht Eurydike Orfeus’ Blick. Der hatte sich eben nach ihr umgedreht, weil sie klagte, keine Kraft mehr zu haben. Er wird mitgerissen von der unsichtbaren Kraft und prallt gegen die Tür, die sich sofort wieder geschlossen hat.
Das letzte Bild von ihr, das verbotene und zugleich wiedergefundene, spukt noch flirrend durch sein Hirn: die an Kopf und Körper halbierte Schönheit der Geliebten, deren anderer Teil erneut schwarzer Schatten geworden ist.
Zunächst bleibt er liegen, halb bewusstlos. Er begreift nicht, was geschehen ist. Mit Mühe erinnert er sich: der endlose Weg aus der Unterwelt, auf dem ihn Hermes geleiten und führen sollte, doch der Gott ist unsichtbar geblieben.
Den ganzen Weg lang das herzzerreißende Seufzen und Stöhnen seiner Geliebten. War sie der Sprache nicht mehr mächtig? Wollte sie nicht mehr zurückkehren zu den Lebenden, zu ihm, zur immerwährenden Liebe?
Die Bewohner des Hades sind Schatten, sie haben keinen Körper, keine physische Kraft mehr, das sah er ein. Aber er hatte doch Kraft für sie, für beide?
Orfeus hämmert an die Tür. Natürlich vergeblich. Er wendet sich an Hermes. Ohne Erfolg. Er fühlt eine ungeheuerliche Schwäche in sich. Sein Instrument verweigert sich ihm. Er setzt sich auf die Stufen, die zur Tür hinab führen, er fixiert die Tür. Wenn er jemand anderen bäte, sie aufzubrechen? Aber er hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Wenn er sich von hier entfernt, wird er diesen Ort nie wieder finden, dessen ist er sicher.
Eurydike. Geflohen ist sie vor einem wüsten Werber, eine Giftschlange , auf die sie trat, hat sie auf der Flucht gebissen. Den Verfolger hat er erschlagen. Doch gerettet hat er eine Sterbende.
Die Unterwelt hat viele Eingänge, die Toten aus der ganzen Welt müssen den ihren finden. Den Lebenden bleiben sie verborgen, sie liegen getarnt in schwindelerregenden Abgründen und im Labyrinth von Höhlen. Orfeus hat einen Schamanen aus Thrakien, seiner Heimat, befragt, der ihm sagte, dass im äußersten Süden Griechenlands ein derartiges Tor zur anderen Welt vermutet würde. Orfeus hat es gefunden und mit der Hilfe seines Gesangs sich hinweggesetzt über das strikte Verbot für Lebende, ins Totenreich vorzudringen.
Kerberos heulte und winselte, Charon verstopfte sich die Ohren wie später Odysseus im Golf der Sirenen, die Schatten strömten herbei und begannen sich tanzend zu wiegen. Sisyphos ließ den schweren Stein los, der befreit seinen Hang hinab polterte. Die Totenrichter sollen geweint haben. Hades war außer sich, doch Persephone bekam Mitleid mit Eurydike, die, versteckt hinter einem Felsbrocken, davor zurückscheute, sich Orfeus zu zeigen. Sie hatte ja keinen Körper mehr, und die Schatten gleichen sich wie ein Ei dem anderen, es ist keine Schönheit mehr in ihnen.
Zuletzt wird Eurydikes Rückkehr erlaubt.
Viele Gelehrte haben sich gefragt, mit welchem Opfer Hades bestochen wurde. Wahrscheinlich ist es überhaupt menschenunmöglich, die Klausel einzuhalten, der zufolge Orfeus sich nicht nach Eurydike umdrehen durfte. Also eine subtile Bestrafung oder Rache an einem, der sich über das Verbot, in diese Welt einzudringen, frech hinwegsetzte?
Eine vergleichbare Strafe wird Orfeus nach seiner Rückkehr unter die Sterblichen treffen. Eurydike treu, entsagt er der Liebe und widmet sich ganz der Musik und dem Gesang. Er sammelt gleichgesinnte Männer um sich, die sich, von seinem Vorbild bezaubert, wie er uneingeschränkt der Klanges- und Sangeskunst verschreiben und auf den Verkehr mit den Frauen verzichten.
Die Tanzschuppen bleiben leer.
Eine Abordnung thrakischer Frauen ermannt sich und bringt amazonengleich den Sänger und seine Jünger um.
Wie wird sich die Rückkehr ins Totenreich, wie wird sich das Wiedersehen mit Eurydike - falls es ein solches gab - gestaltet haben.?Dazu schweigen die sonst so einfallsreichen griechischen Geschichten-Erzähler.