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einhorn insel der seligen

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Kurzes, fransiges Kleid, niedergetretene, nur schwächlich klackernde Schühchen. So dünn die Ärmchen, so mager die Beinchen! Doch das Kind beherrscht die große Geste. Der Blick folgt dem Arm, der sich langsam hebt und dramatisch zum Himmel weist. Tanz, Marie!

Du brauchst dich nicht umziehen für dein Tanzvergnügen, du fängst einfach an, wann immer dich die Lust überkommt und wo immer du ein Stückchen freies Pflaster findest.

Du brauchst keine Musik, du trällerst sie dir selber oder singst sogar vor dich hin, während du dich drehst. Du hast viele Geschwister, vor allem kleinere, da sind deine Eltern froh, wenn du nicht in der engen Wohnung herumtollst. Du hast schon einmal dabei etwas zerdeppert.

Die Leute auf der Straße fühlen sich meist nicht gestört, im Gegenteil. Du erinnerst sie daran, dass sie auch einen Körper haben. Das tut ihnen manchmal weh und sie wenden sich rasch ab und gehen weiter. Aber genauso erinnerst du sie auch an ihre Kinder, ihre Kindheit. Da werden manche rührselig.

Auf den Straßen gibt es kaum mehr Kinder, die einfach herumziehen, ihre Spiele spielen oder gar eine Art Vorstellung geben wie du. Dazu haben sie keine Zeit, so wenig wie ihre Eltern

Die Straße ist heutzutage auch verdammt gefährlich. Fußgängerzonen und Gehsteige schützen nicht vor rasenden Radlern und polternden Rollern. Trotzdem heißt es: Tanz, Marie!

Den Leuten gefällt auch (ob sie es zugeben würden?), dass kein Hut vor dir liegt, keine Sammelbüchse auf Münzen wartet. In der Welt des Geldes bist du noch nicht angekommen, so scheint es. Keine Tasche im Kleid, wo solltest du Münzen einstecken? Gäbe es solch eine Tasche und wären Münzen drin, so käme eine Unwucht in den Flug des Stoffs.

Die Tanzmarie ist also noch nicht im Netz des Geldes gefangen! Ihre Freiheit wird aber wohl nicht mehr sehr lange dauern. Damit trösten sich die, die vorbeigehen, eine kurze Unsicherheit lang zusehen, resignierend nicken und ihren Weg fortsetzen.

Es müssten ja nicht unbedingt Münzen sein. Man könnte der Marie auch Spielzeug oder einen kleinen Leckerbissen schenken (man müsste drüben beim Bäcker etwas kaufen, umkehren und es ihr mit ein paar freundlichen Worten zustecken – viel zu aufwendig). Man könnte ein Blatt aus seinem Notizbuch reißen und eine kleine Zeichnung für sie machen. Oder, weniger altmodisch, ihr ein hübsches Video auf dem eigenen Handy zeigen.

Sie loben.

Nun gut, manche klatschen in die Hände.

Ihre Eltern würden sagen, dass sie sich schämten; Almosen zu empfangen sei traurig.

Denn, klar, das Mädchen ist arm. Unterernährt. Außer dem Kleidchen besitzt es vielleicht kaum Kleidung. Der Kopf ist geschoren. Wegen der Läuse.

Eine Bettlerin, die nicht bettelt.

Ein noch sehr kleines Kind, das, wer weiß, zum Betteln abgerichtet wird?

Tanz, Marie!


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