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einhorn insel der seligen

Kastanienblätter


Sie haben sich auf den Weg gemacht zu dir, präsentieren sich nun, zeigen sich selbst, mit ruhigem Stolz, als eine Dreieinigkeit. Ihr feines Aderwerk entfaltet sich beidseits, erobert sich Raum in deinem Blick.

Die raue Oberfläche scheint solide, doch sie ist opak. Zwei bleiben zwei, auch wenn sie übereinander liegen. Das eine mag das andere nicht verdecken. Sie teilen.

Ihre Ordnung ist einfach. Sie halten sich an eine unsichtbare Achse.

Sie sind fragil.

Fass sie lieber nicht an.

Das Schöne ist seit jeher flüchtig gewesen, es ist mehr als alles andere und schneller Verfall und Zerfall ausgesetzt. Stehst du ihm plötzlich gegenüber, hast du nur ein paar Augenblicke Zeit, um es festzuhalten. Und hast du es ergriffen und drückst es an dich, um es zu bergen, zu schützen, so ist es vielleicht schon beschädigt oder zerstört.

Es entzieht sich dir. Denn es gehört niemandem.

Oft ist nicht das Ding schön, sondern die Gelegenheit, die Umgebung, der Kontext, deine Disposition, worin es aufblitzt. Die Zeit besteht aus Augenblicken. Deine Zeit besteht aus diesen Augenblicken, solchen, in denen plötzlich eine unvermutete Transparenz Zusammenhänge erschließt, die du vorher nicht wahrnehmen konntest.

Diese Blätter stammen von riesigen Bäumen. Zu jedem Baum gehören Zehntausende, die sich im Herbst zerstreuen in alle Winde und schließlich unbemerkt zu Erde geworden sind. Jeder weiß, dass nicht zwei von zigtausend sich gleichen. Zwei kannst du vergleichen, Zigtausende nicht. Und doch ist es so. Du gleichst ja auch keiner anderen Person, nicht einmal deinen engsten Verwandten. Nicht einmal mit deinem Zwilling, wenn es einen gäbe, würdest du in jedem Detail übereinstimmen.

Diese Blätter haben sich verwandelt. Sie gehören zu keinem Baum mehr, sie sind nichts als sie selbst. Sie bleiben, was sie sind.

Von ihrem Leben fließt etwas über in deines. Was das ist, kannst du mit Worten nicht erfassen. Es ist enthalten in einem jener Augenblicke, die zwar für sich selbst unwiederholbar sind, aber wenn du zurückkehrst, um ihnen erneut zu begegnen, kann es sein, dass sie weiter freudige Entdeckungen für dich bereithalten.


(Collage/Montage von Marie Michelle Esnard, Chinon (F), † 29 – 9 – 2019)

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