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einhorn insel der seligen

Am Brunnen


Es war einmal ein Ries, dem ein Girlie das Herz brach. Es war nämlich eines unglückseligen Morgens einfach - verduftet. Weg. Mutterseelenallein erwacht, wartete der Ries vergebens, dass sein Augenstern ihm das Frühstück ans Bett brächte. Schnaufend erhob er sich und entdeckte die Bescherung: kein Girlie, nirgends.

Zuerst ward er zornig, schrie und wütete sich durchs Haus. Möbel warf er aus dem Fenster, Scheiben und Kreuze derselben nicht schonend, uneingedenk des Umstands, dass es bald wieder Winter würde. Eine Mauer brachte er mit dem bloßen Rammen seiner Schultern und Faustschlägen zum Einsturz, zum Glück war es keine tragende Wand. Sonst hätte ihn das Haus unter sich begraben, tot wäre er gelegen unter den Trümmern, befreit allerdings von Kummer und Zorn.

Als nur mehr wenig heil geblieben war im Haus (den ehrwürdigen gusseisernen Kochherd seiner Altvordern etwa hatte er verschont, er war allerdings auch für einen Riesen ziemlich schwer), da zog es ihn in den Garten, die frische Luft und der leise Regen taten ihm wohl. Er ließ sich auf einen Plastikstuhl fallen und blickte auf sein Paradies: den mit Pfählen gestützten Riesen-Apfelbaum, dahinter die Walnuss, Rhabarber, Zucchinigewucher, Quitten, grünliche Reineclauden, das Birnenspalier. Seine Hecke, die himmelwärts wuchs, umzäunte noch den kleinen Garten, den die Rehe längst unter sich aufgeteilt hatten.

Obwohl er direkt vor ihm saß, nahm er ihn als letztes wahr: seinen Brunnen.

Am Brunnenrand war sein Girlie gesessen, als er sie zum ersten Mal sah, sie war einfach da gewesen, als wäre sie herein geritten auf jenem Reh, das unsichtbar in der Tiefe des Gartens äste. Er war wie heute aus dem Haus getreten, auch damals wütend wegen irgendeiner Lappalie, der Zufall hatte seine Schritte zum Brunnen gelenkt. Was er sah, ergriff ihn, durchnudelte ihn förmlich. Er riss sich zusammen, brachte eine Verneigung und eine zarte, fast schon zärtliche Begrüßung zustande und nahm mit Verlaub gegenüber der mutmaßlichen Rehamazone Platz.

So hatte alles begonnen. Und nun? Tränen perlten über des Riesen Backen und vermischten sich mit dem Regen, ein Schluchzen brach aus ihm hervor.

Keine Spur, kein Geruch, kein Abschiedsbrief, kein BH. Girlie hatte sich seiner stets schwungvoll entledigt und ihn wie ein Lasso über ein Objekt (Deckenlampe, Kleiderhaken, TV-Bildschirm etc.) geschleudert. Nichts blieb zurück. Eindeutiger hätte ein Abschied nicht sein können.

Der Brunnen steckte voller Erinnerungen. Dort hatten sie auch später oft gesessen und die Früchte des Gartens verzehrt. Das Stück der Brüstung, das schon seine Altvorderen heraus gebrochen hatten, hatte als Tisch gedient für Brot und Wein, das sie schöne Gespräche begleitend genossen. Gedeckt von der Brüstung waren sie gelegen und hatten der Liebe gepflogen …

Jetzt aber …?

Jetzt wuchs üppig Unkraut im alten Brunnenschacht, als wären sie nicht gestern noch dort vereint gewesen, Girlie und er, dem dieser Ort erhebliche Krümmungen abverlangte.

So viel Unkraut konnte nicht in einer einzigen Nacht aufgeschossen sein. Oder doch?

Der Ries sprang auf, rannte ins Haus, suchte sein Pflanzenbestimmungsbuch. Das Regal hatte die Möbelbeseitigungsaktion überlebt. Aber die Pflanze fand er nicht.

Verwirrt stolperte er wieder zum Brunnen. Hatte er etwa so lange, vom Schmerz betäubt, in jenem Stuhl ausgeharrt, Tage oder Wochen lang, so dass in dieser Zeit all dies Kraut hatte gedeihen können?

Gleichviel.

Gib dich deinem Schmerz hin, ô Ries, er wird dann rascher vergehen. Verblendet hat dich dein Girlie verlassen. Das Unkraut wird den Brunnen, der dich an die Verflossene erinnert, überwuchern. Deine Bäume werden weiter Früchte tragen, wenn ein anderes Reh eine andere Amazone durch deinen Garten trägt. Sei wachsam, Ries, und verzage mitnichten!


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