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einhorn insel der seligen

Tractus iliotibialis


Einmal kommt und immer wieder kehrt der Tag des Kusses. Und jeder Kuss birgt eine Entscheidung, doch oft bringt er sie nicht unmittelbar mit sich.

Ist das Pferd verzaubert? Ist die Frau eine Statue? Im nächsten Moment fällt eine Entscheidung. Doch wir haben nur diesen einen Augenblick, das Hier und Jetzt. Wir haben kein Sinnesorgan für die Zeit, nur unsere Einbildungskraft. Wir sinnieren uns hinein in eine imaginäre Vergangenheit, erfinden Konstellationen (Sonnenuntergang?), ganze Geschichten, wie Pferd und Frau zusammen kamen. Beider Konfrontation wird dann fortgeführt in das Danach: Wird der Kuss eine Verwandlung auflösen? Oder eine neue herbeiführen?

Wen könnte ein widriges Geschick zum Pferd gemacht haben? Einen Rosstäuscher? Einen Kavallerieoffizier? Den großen Alexander? Oder ein sanftes, schlichtes Gemüt, das an einer Koppel vorbeiging und gedankenverloren einen neugierigen Gaul streichelte?

In letzterem Fall könnte es sein, dass die betroffene Person sich durchaus nicht unwohl fühlte. Wenn es sich bei dem Verwandelten um einen professionellen Reiter handelte, würde ihn die verkehrte Welt dagegen bedrücken, schon im wörtlichen Sinn. Ein Rosstäuscher könnte es als Strafe hinnehmen, wenn gesichert wäre, dass Pferde den Begriff der Strafe empfänden. Wenn nicht, wäre er sogar von möglichen Gewissensbissen befreit.

Die Lastenträgerin steht dem Pferd, ob verwandelt oder nicht, gegenüber. Ihre Lippen sind in Wartestellung. Sie scheint bereit, ihr Gefäß abzuwerfen, falls es zu einem Kuss käme.

Doch es fiele von selbst.

Jeder Kuss ist eine Erschütterung. Der fremde Körper berührt einen wunden Punkt. Selbst wenn die Berührung nur kurz ist, setzt sie sich fort ins Körperinnere. Wenn von Verwandlungen die Rede sein soll, so finden sie dort statt, in den nie gesehenen Zonen des Bauchs und des Selbst zugleich.

Anziehung und Abstoßung stehen sich auch im Akt des Küssens diametral gegenüber. Ein Kuss ist eine Überwältigung, die Begeisterung oder Abscheu hervorruft. Der Speichel ist nicht unschuldig. Die Zunge liegt auf der Lauer. An die Zähne mag man nicht denken.

Manch Überwältigter würde sagen, falls ihm im Kusszustand nicht die Spucke wegbliebe: Mein lieber Schwan! Oder: Holla, die Waldfee! Oder: Heiligs Blechle!

Oder, widrigenfalls: Ich glaub, mich tritt ein Pferd!

Metaphern sind – wie Küsse - Verwandlungen.

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