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einhorn insel der seligen

Begegnung


Halb ist sie schon über dem Gatter. Mit energischem Schwung hat sie sich vom Trittstein abgestoßen

Da dreht er sich um.

Hat der Rocksaum ein Geräusch gemacht, als er über das grobe Holz glitt? Hat sie den Stock, der ihr zur Stütze schon vorausgeeilt ist, zu heftig aufgesetzt? Oder ist es ein Geruch? Sie ist weit gelaufen, und rasch. Der Schweiß? Sie glaubt es nicht.

Hoch oben kreist ein Raubvogel. Oder ein Geier?

Sein Blick ist ohne Ausdruck. Ein Starren. Das Buch, ein frommes, hoffentlich, hat er nicht losgelassen. Ist er wirklich so korpulent, ja fett, wie es jetzt aussieht, als er sich vom Boden halb erhoben hat und seine Kutte bauscht?

Auch ihre Bewegung stockt, sie wird noch den Fuß aufsetzen, innen und einen Augenblick lang rittlings auf dem Gatter sitzend verharren. Das Bündel unter dem Arm wird sie dabei nicht loslassen, so wenig wie den Schirm.

Sie behält ihn im Auge. Sein Blick erfasst vorerst vor allem ihren rechten Arm mit dem Schirmgriff. Doch um zuzuschlagen, müsste sie das Bündel fallen lassen. Und sicheren Stand haben. Dazu sollte sie auch das zweite Bein über das Gatter bringen.

Sie ist nicht gekleidet wie zu einem Kampf. Und ein Mann Gottes, ein Mann immerhin, dürfte vor ihr keine Angst haben, selbst angesichts möglicher Waffen. Trotzdem geht ihm, ohne dass er es will, ein Stoßgebet durch den Kopf.

Du kennst mich! Du abscheuliches Tier!

Diese unerwarteten Worte lösen etwas in ihm aus.

Bald siebzehn Jahre.

Er hat sich ganz aufgerichtet, plötzlich begreift er. Brüsk wendet er sich weg und hastet stolpernd davon.

Der Stock war zu schwer, er hat ihn verfehlt. Sie wird seinen Vorsprung nicht einholen. Aber wohin soll er laufen? Das Kloster ist in Sichtweite, dort, am Fuß des Hügels. An der Pforte werden sie sie zurückweisen. Aber sie weiß, wo sie ihn jederzeit findet. Und wenn sie Beweise hat? Lachhaft. Was für Beweise sollten das sein? Nach so langer Zeit. Und von einer Frau.

Und wenn er so täte, als gehörte er nicht zu dem Kloster? Aber er trägt die Kutte. Und er müsste sich irgendwo verstecken, ohne Abendessen biwakieren. Er blickt sich um.

Sie hat die Verfolgung nicht aufgenommen. Sie steht, wo er gerade saß. Sie lässt ihn nicht aus den Augen, ihr Kopf ist in ein langsames und gleichmäßiges Nicken verfallen. Sie hat den Stab wieder aufgenommen, klopft mit ihm auf den Boden.

Wäre sie ein Mann, hätte sie vor mir ausgespuckt, denkt er.


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