top of page
Aktueller Eintrag
Frühere Einträge
Archiv
Schlagwörter

einhorn insel der seligen

Konstellationen


Sie sitzt auf einer Bank am Teich, sehr weiß und so allein. Das Schilf welkt dahin, braune Blätter bedecken das fahle Gras. Sind wir in einem englischen Park, will sagen, an einem romantischen Ort, wo man gleich geflüsterten Liebesschwüren wird lauschen können oder aber einen Meuchelmörder aus dem Dickicht springen und die Mordwaffe erheben sieht gegen die wehrlose Frau?

Oder beides?

Wer allein ist, kann Zuflucht nehmen zu seiner Phantasie, und schon katapultiert er sich aus der Welt und fliegt hinweg über die Einsamkeit, ungeahnte, erregende Welten erobernd. Die Dame blickt aufs Wasser, das sich in konzentrischen Kreisen kräuselt, als wäre im Zentrum dieser Kreise eben etwas auf- oder untergetaucht, als läge in der leisen Bewegung des Teichs, im leisen Flüstern der Wellen, eine versteckte Botschaft.

Das wäre doch schön.

Doch da knistert es fast unhörbar im Schilf und der gehörnte Ehemann fasst den Dolch fester und atmet tief durch. Wer mordet, muss mutig sein und hoch konzentriert. Morden ist kein Pappenstiel.

Doch die Ehebrecherin ist auf Rache gefasst. Sie hat sich vorgenommen, gleichzeitig mit dem Erscheinen des Mörders aufzuspringen und sich wie eine Wildkatze auf ihn zu stürzen, der Waffe nicht achtend. Um ihn sterbend mitzureißen in den Teich. Denn das Wasser ist eiskalt, und sie weiß, er kann nicht schwimmen.

Trauen wir ihr das zu? Sie ist leicht gekleidet. Und ist es wirklich schon früher Dezember?

Wir treten vorsichtshalber ein paar Schritt zurück: Wollen doch mal sehen


Oh! Es ist ganz anders gekommen. Kein meuchelnder Wüterich! Kein doppeltes Röcheln im Teich! Stattdessen ein Glückszeichen in fröhlichen Farben, die das Weiß der Frau übermalen werden ...

Doch die Frau bemerkt nichts, sie kann nichts bemerken. Nur wir können es sehen, aus veränderter Position. Die Frau starrt weiter auf die Wasserfläche, die, das wird jetzt sichtbar, nicht nur von Schilf, sondern von einem Nadelgehölz förmlich um-, ja überwuchert wird, bar jeglicher Anmut, die wir von englischen Parkanlagen doch eigentlich erwarten dürfen. Der Plan vor uns ist übersät mit unordentlich herumliegenden, gefallenen toten Blättern, die Äste der Bäume sind grauenerregend kahl, das Gras bleich, eine trostlose Leere fällt uns an. Was wir Glückszeichen genannt haben, wirkt jetzt wie Hohn, wie ein Wiedergänger aus dem falschen Film …

Da hätten wir uns doch lieber Mord und Gegen-Mord gewünscht.

Wir sehen hier eine Landschaft, die dem antiken Totenreich ähneln könnte: verblassende Farben, die gipfeln im menschlichen Weiß, der Un-Farbe. Wir sehen keine Hoffnung, nur in der Ferne ein Trugbild in Blau, der Farbe des Unendlichen, der Ewigkeit. Und ewig ist auch Hades‘ Reich.

Wir sind jenseits des Mordes angelangt. Charon hat uns über den großen Teich geschippert, der dreiköpfige Höllenhund hat angeschlagen. Wir haben es vergessen, so wie wir alles Irdische vergessen werden.


Holla! Wir wollten nun doch noch einmal einen Blick auf den Teich werfen, vielleicht doch noch Charon sehen, wie er zurückrudert, und den widerlichen Hund, der uns nichts mehr anhaben kann. Wir sind in großem Bogen herumgegangen. In der Unterwelt können wir Schattenwesen uns frei bewegen. Die Augen hielten wir zugekniffen, nach Möglichkeit.

Und plötzlich sind die Farben wieder da, die dem frühen Dezember und der beginnenden Winterkälte trotzen und Heiterkeit ausstrahlen. Die Reise ins Totenreich hat anscheinend doch nicht stattgefunden. Das Wasser kräuselt sich noch immer, das trügerische Glückszeichen in falschem Blau ist verschwunden, es versteckt sich jetzt seinerseits vor unserem Blick, wir haben ja gelernt, es zu verachten.

Das Schilf ist ergrünt, Blätter sind an ihrem Zweig geblieben. Der Teich benötigt keine konzentrischen Kreise mehr, um unseren Blick festzuhalten. Er glänzt in einem natürlichen, beruhigendem Blau

Doch plötzlich diese Unschärfe. Die Frau in Weiß, nunmehr frontal – warum verschwimmt sie vor unseren Augen? Vielleicht haben wir zu viel trübes Grau gesehen.

Immerhin, wir können sehen, wie sie den Rock hochzieht über das linke Knie, das rechte ist bereits entblößt. Sie blickt ungeniert zu uns herüber. Ihr Kopfputz wirkt nun gar nicht mehr nonnenhaft, ein Diadem? Nein. Irgendwie wirkt sie aggressiv in ihrer Knochigkeit.

Hält sie uns für Mörder? Zum Glück trennt uns das Wasser.

Bestimmt kann sie nicht schwimmen.

bottom of page