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einhorn insel der seligen

Abracos


Stell dir vor, ich bliebe plötzlich in der Menge stehen und ginge auf dich los, um dich zu umarmen. Welche Möglichkeiten hättest du?

Gesetzt den Fall, du ließest es zu:

Du wärst sicherlich verdutzt, überwältigt, von den Socken … All das könnte jeder, der vorbei käme, in deinem Gesicht lesen. Wie in einem offenen Buch. Dein Körper würde spontan reagieren, würde zusammenzucken, würde eine Wendung versuchen, aber ich hinge an dir wie nasse Wäsche. Da würden doch manche stehen bleiben, andere würden feixen oder laut lachen, je nach Extrovertiertheitsgrad. Wahrscheinlich würdest du dich blamiert fühlen: eine wildfremde Person dringt in den total privaten, den total intimen Dunstkreis deines Körpers ein, berührt dich womöglich an der Schläfe oder gar an der Backe, hält dich fest umklammert, beraubt dich momentan jeder Beweglichkeit, es ist letztlich Freiheitsberaubung, was das solle überhaupt …

Vielleicht hast du aber infolge einer Ungeschicklichkeit meinerseits vorausgeahnt, was da kommen würde:

Du bist blitzschnell ausgewichen, kein Problem für einen, dem sein Körper wichtig ist, stets wichtig war. Du lässt mich ins Leere laufen, gegen jemand anderen prallen oder sogar stolpern und stürzen. Andere kämen in die Bredouille, von meinem Körper berührt zu werden. Die Lacher hättest du nun auf deiner Seite: Was für ein Irrsinn ist das, sich blind in eine Menschenansammlung zu stürzen, das ist doch ein Fall für einen Irrenarzt, leider darf man das heutzutage nicht mehr sagen, aber, Vorsicht, es könnte sein, dass die Person irgendwie noch um sich schlägt, obwohl, nein, ein Terrorist ist das nicht …

Vielleicht hast du im Ansatz meiner Bewegung die Provokation erkannt, oder sogar eine Aggression:

Das kannst du nicht zulassen, du hältst dagegen, das kannst du dir leisten, du bist kräftig gebaut, du hast schon als Kind mit Leidenschaft gerauft, da komme ich dir gerade recht, du rangelst, du knuffst, du schubst, du prügelst.

Statt im Dienste der universellen Liebe mit dir vereint zu sein – und wäre es auch nur für einen Augenblick – bin ich mit einem Mal Opfer, in akuter Gefahr durch Anwendung von Gewalt.

Gegen mich, der ich nichts wollte als … - ja was? Dazugehören? Einen anderen Körper spüren und heraustreten aus meiner grenzenlosen Einsamkeit?

Wie würden die Passanten, diese unfreiwilligen Zeugen, reagieren? Eventuell würden sie in diesem Fall nicht lachen.

Sicher würde es eine Rolle spielen, ob du Mann wärst oder Frau (ob Kind, das sei einmal ausgeklammert), ob ich Mann wäre oder Frau.

Außerdem könnten Worte fallen. Ich könnte Buddha zitieren oder die Bergpredigt. Oder hätte ich sagen sollen: Allah ist groß? Würde mir jemand zuhören? Ich könnte von mir sprechen, von meinen Wünschen oder Frustrationen, von meinen Beweggründen für solch kühne Tat. Ich könnte endlich frei sprechen, denn du würdest mich nicht kennen, wir würden uns nie wieder begegnen, das wäre fast sicher …

Aber würde ich mich das trauen? Wäre nicht für mich die Geste allein schon fast eine übermenschliche Anstrengung? Dass ich jemand berührte, ohne dass er mich dazu ermutigt hätte?

Diese Geste, die unser Ein und Alles war am Anfang unserer Existenz?

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