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einhorn insel der seligen

Guillotin -e


Der Doktor Guillotin, ein aktiver Freimaurer, war ein Menschenfreund gewesen, aus menschlichem Mitgefühl mit den Todgeweihten hatte er zum Zwecke der Tötung verurteilter Verbrecher eine Maschine empfohlen, die es bereits seit langem in unterschiedlicher Ausführung gab. Der Tod sollte in seiner Vorstellung für alle Verurteilten gleich sein und er sollte sie nicht unnötig leiden lassen. So weit, so gut.

Selbstverständlich traten solch edle Absichten in den Hintergrund, als die Gesellschaft ins Wanken geriet. Erst wurde deren Ordnung auf den Kopf gestellt, dann rollten Köpfe: die sturen Köpfe der Neinsager und die allzu klugen Köpfe, zuletzt alle Köpfe vermeintlicher oder wirklicher Gegner der jeweiligen Auftraggeber, die sich ihrerseits rasch ablösten. Es kam auf Massenabfertigung an, und da leistete das auf Initiative Herrn Dr. Guillotins gebaute Gerät hervorragende Dienste. Vor allem die Tatsache, dass der immer wieder nachjustierte Schliff des Fallbeils einwandfrei glatte Schnitte erzeugte, bestach: Hob der Henkersknecht nach getaner Arbeit den Kopf auf das Johlen der zuschauenden Massen hin noch einmal aus dem Korb, so rann das Blut in sauberen senkrechten Strahlen auf die Estrade.

Dr. Guillotin selbst hätte sich gerne auf seine Freimaurerei zurückgezogen, dass die Tötungsmaschine seinen Namen trug, war ihm peinlich. Er war kein Gegner der Todesstrafe, aber dass nun zweifelhafte Charaktere oder sogar offenkundige Verbrecher Todesurteile verlautbarten, widersprach seinen humanistischen Grundsätzen.

Doch die Maschine hieß nun eben so, wie sie hieß, und arbeitete willig und brav und gnadenlos.

Elise Saugrain, die der Doktor in bereits fortgeschrittenem Alter geehelicht hatte, störte sich – im Gegensatz zu ihrem Gatten und der restlichen Familie Guillotin – keineswegs daran, dass ihr Name mit Hinrichtungen verbunden bleiben würde. Zeitlebens schwadronierte sie herum, sie würde, falls eine unheilbare Krankheit sie befiele und mit dauernden Schmerzen überzöge, freiwillig ihrem Leben ein Ende machen, und zwar mittels der Guillotine. Gedacht war das als Propaganda, die den Namen ihres Mannes - und damit auch den ihren - alle Welt tragen sollte.

Das entfremdete sie rasch von ihrem Mann, der sich in seine Studien über die heilsame Wirkung einer Impfung gegen die Kuhpocken vergrub.

Beim Wort genommen werden wollte Elise Saugrain natürlich nicht. Sie ließ sich aber von einem Künstler, einem Bayern aus der Gegend von Altötting, ein Modell ihres Kopfes anfertigen – ihres vom Fallbeil abgetrennten Kopfes, wohlgemerkt – und es in einer ungewöhnlich gestalteten Glasvitrine lagern. Sie verfügte, dass es nach ihrem Ableben im Jardin des Plantes zum ewigen Gedächtnis ihres Mannes ausgestellt werden sollte.

Was auch geschah (man war nicht mittellos).

Mit einem kleinen Schönheitsfehler.

Der Künstler hatte den Auftrag nur angenommen, weil er sich gerade in einer akuten Notlage befand. Mme Saugrain de Guillotin war bei einer Hinrichtung buchstäblich auf ihn gestoßen, als er die Versammlung, in die er versehentlich geraten war, in großer Eile verlassen wollte, denn er verabscheute ein solch massenhaftes Abschlachten. Der höfliche Mann mit dem leicht schwebenden deutschen Akzent, den gebildete Franzosen seit Mme de Staël so lieben, entschuldigte sich in aller Form und ließ sich auf das Gespräch ein, offenbarte schließlich, er sei Bildhauer, woraufhin ihn Mme Saugrain de Guillotin bat, ein Modell ihres Kopfes anzufertigen.

Den Kopf einer (wenn auch nur virtuell) Geköpften zu modellieren war ihm zutiefst zuwider. Die zu porträtierende Dame war zwar nicht mehr ganz jung, aber durchaus nicht unhübsch und hatte sich keines Verbrechens schuldig gemacht. Das widersprach seinen ästhetischen Grundsätzen und seinem Gefühl für menschliche Würde. Um Haltung zu bewahren, schmuggelte er in sein Modell einen kleinen Fehler ein. Bei genauerer Betrachtung konnte die fiktive Hinrichtung dieser Dame auf keinen Fall mit einer Guillotine vollzogen worden sein, denn der Schnitt des Beils war weder einwandfrei gerade noch verlief er genau horizontal.

Er präsentierte Mme Saugrain de Guillotin das fertige Modell so geschickt, dass sie den Fehler übersah und dem Bayern mehr bezahlte, als er gefordert hatte. Was vor allem daran lag, dass das Abbild ihr hübscher zu sein schien als was sie täglich im Spiegel sah. Überdies war sie, schon als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, und erst recht dann, als sie ihm Modell saß, von seiner lebhaften, dabei unbefangenen Jugend sehr angetan.

Weitere Aufträge lehnte der Bildhauer unter einem Vorwand ab. Und reiste Hals über Kopf ab.

Elise Saugrain starb nicht unter dem Fallbeil.

Dr. Guillotin starb an einem Karbunkel.

Die Familie Guillotin durfte einen anderen Namen annehmen. Welchen? Das blieb selbstverständlich geheim.

Die Guillotine blieb sich treu. Noch hundertfünfundachtzig Jahre versah sie willig, brav und gnadenlos ihren Dienst.

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