
Höchstwahrscheinlich hat Lily nicht gelesen, was dort auf dem Schild steht. Sie ist einfach vorbeigegangen.
Eine Tafel, in die Wand eingelassen, ein Text in wuselig kleinen Buchstaben. Bestimmt wird da etwas verboten. Ich kann die Schrift nicht entziffern, aber näher rangehen werde ich nicht. Nicht einen Schritt.
Denn eben geht Lily vorbei. Und davon mag ich keine Sekunde verpassen.
Wie sie die Beine setzt, wie die Hüften schwingen! Lily braucht dazu keine hohen Absätze. Die Bewegung fließt aus dem Körper heraus in den Raum, und der Raum wird Lily durch das gesamte Universum begleiten. Mein Auge folgt ihr bis zu einer Ecke, um die sie biegt. Und verschwindet.
Das Universum setzt sich hinter jener Ecke fort. Ich bin auf der Strecke geblieben.
Ich bin kein Stalker. Manchmal bedauert man, was man nicht ist.
Bin stehen geblieben. Grüble.
Seltsam, dass Lily das intensive Rot nicht aufgefallen ist, mit dem die ursprüngliche Schrift übertüncht wurde. So, dass sie fast nicht mehr zu entziffern ist. Kann es sein, dass Lily oft hier vorbeikommt, auf dem Weg zur Arbeit vielleicht? Jeden Tag zur selben Zeit vielleicht?
Ich probiere es. Finde mich hier am nächsten Tag zur gleichen Zeit wieder ein. Und was sehe ich?
Jemand, der Lily anhimmelt, ein anderer, nicht ich, hat in schwungvollen Lettern seine maximale Verehrung für Lily öffentlich gemacht. Für Lilly mit zwei L. Das I von dich ist ihm im Hals stecken geblieben. So wie ich keine Luft mehr kriegte, als ich Lily gestern sah.
Normal, dass eine Schönheit wie Lily mehr als einen Verehrer hat. Ach was, Tausende von Verehrern hat so eine Frau! Da ist es nicht zielführend, wenn du dich hinstellst und einfach nur glotzt. Der Konkurrent hat gehandelt! Er hat Lily (Lilly mit Doppel-L !) etwas zu Füßen gelegt: den Schwung seiner Schrift, ihre künstlerische Freiheit, dergestalt, dass das fehlende i von dich zwei Purzelbäume geschlagen hat und als Ausrufezeichen einen Schlussakkord setzt.
Ist es dieselbe Person, die die graue Tafel in strahlendes Rot tauchte? Egal. Sie hat einen Schritt getan, auf den ich nicht gekommen wäre.
Den ich nicht gewagt hätte. Liebe ist ein sehr privates Ding, das nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werden darf. Dies meine Meinung, die mir aber nicht weiter hilft. Ich stehe immer noch hier, blicke auf diese Buchstaben, die sich gegenseitig umarmen, die lachend tanzen.
Wenn Lily heute wirklich auftaucht, wird sie sie bemerken. Es sei denn, sie ist schon an Hunderten solcher oder ähnlicher Erklärungen vorbei geschritten. Es kann sogar sein, dass sie weiß, wer deren Urheber ist, ein widerlicher Typ, ein nichtssagendes Jüngelchen vielleicht, oder aber ...
Oder sie bleibt stehen, liest, blickt sich um und sieht – mich! Ich lache übers ganze Gesicht, breite die Arme aus und werde gleich anfangen zu tanzen wie die Buchstaben auf der roten Tafel. Mit dem Unterschied, dass ich aus Fleisch und Blut bin, dass mein Körper einen Schwall von Gefühlen in Richtung Lily schickt.
Schlimmstenfalls wird sie sich an die Schläfe tippen mit dem Zeigefinger oder mit der flachen Hand vor ihrem Gesicht herumwedeln.
Oder sie wird große Augen machen und den Arm hochreißen, um mich zu warnen.
Es kann nämlich sein, dass der Urheber dieser Liebeserklärung knapp hinter mir steht – von Lily fasziniert, habe ich nicht bemerkt, wie er sich heranpirschte – und mir mit einem stumpfen Gegenstand einen gezielten Schlag auf den Hinterkopf versetzt.
Die Frage wird dann sein: Schätzt Lily rohe, gewaltbereite Liebhaber, die bereit sind für sie über Leichen zu gehen? Oder wird sie, von Mitleid mit einem um ihretwillen misshandelten Mann überwältigt, den Schläger verscheuchen und Notarzt und Polizei verständigen?
Fest steht: aus Mitleid wird äußerst selten Liebe.
Fest steht: Brutalität setzt sich häufig durch.
Ach, Lily!
Aber sind Lily und Lilly mit Doppel-L überhaupt dieselbe Person? Wie bin ich auf die Idee gekommen, eine mir unbekannte, aber hinreißend schöne Frau willkürlich Lily zu taufen? Ich hab noch nie eine Lily gekannt, nicht einmal in der Grundschule, ich gebe es zu.
Die Verdopplung der Silbe verweist auf mein kindliches Gemüt wie Mama oder Kaka.
Ich schau mich um. Kein hinterhältiger Konkurrent ist zu erblicken. Wenn Lily nicht auftaucht, dann kommt vielleicht Lilly mit Doppel-L vorbei. Warten lohnt sich allemal.
Wahre Liebe braucht eins vor allem: Geduld.