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einhorn insel der seligen

Der Lauf der Zeit


Wie wäre es, wenn die Zeit rückwärts liefe?

Du träfest auf Bekanntes, Bewältigtes. Das könnte dich beruhigen. Das Unbekannte des Noch-nicht versetzt dich oft in unerträgliche Spannung. Du würdest außerdem jünger und immer jünger, das müsste doch angenehm sein, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt, wo eine Umkehrschleife zur Verfügung stehen sollte …

Du würdest natürlich auch auf längst Vergessenes stoßen, das könnte dich ebenso entzücken wie verletzen. Manches würdest du nicht noch einmal erleben wollen. Du hättest aber keine Muße, darüber nachzudenken. Die Vergangenheit wäre da so unerbittlich wie die Zukunft.

Viel und immer mehr würde sich anhäufen. Und all das wärest du. Immer wieder du. Würde dich das nicht langweilen?

Was wäre das Ende? Wäre es ein neuer Anfang?

Manche behaupten, ja, die Zeit laufe im Kreis. Dann kehrte alles wieder, aber wohl in anderem Gewand ...

Hättest, wärest … Nein, die Zeit läuft nicht rückwärts, läuft nicht im Kreis. Was für ein (im doppelten Sinn) komischer Gedanke! Was für aberwitzige Überlegungen! Nur weil du vor einem längst ungültigen Fahrplan stehst, dessen Ordnung dich irritiert.

Wie wäre es, wenn du dich für ein Reiseziel entscheiden solltest? Du kennst die Orte - aus dem Erdkundeunterricht, von spektakulären Mordfällen her oder aus Sportreportagen. In einigen wenigen bist du gewesen, trägst ein inneres Bild, eine Erinnerung mit dir herum, die verblasst sein kann oder gar eine Verwechslung darstellt. Komisch (schon wieder!). Ist dir überhaupt aufgefallen, dass all diese Orte irgendwie nördlich liegen? Weil du tief im Süden vor diesem Fahrplan stehst? Bist du da sicher? Liegt nicht hinter dir die sturmumtoste Nordsee? Nein. Es riecht hier nicht nach Meer. Überhaupt nicht.

Der Fahrplan ist freigebig. Er nennt nicht nur eine Stadt, er nennt auch eine Adresse. Vermutlich die der Bahnhofsmission oder der Obdachlosenfürsorge. Ein Polizeirevier gibt es ohnehin an jedem Bahnhof. Du musst dir also keine Sorgen machen. Es kann nichts schiefgehen.

Liest du hier eigentlich Ankunftszeiten oder Abfahrzeiten? Denk nach! Präzises Denken führt schnurstracks zum Ziel. Deutschlands Mitte liegt vor dir in der Fülle seiner lieblichen Orte, seiner prächtigen Bahnhöfe, seiner magischen Momente. Entscheide dich!

Oder du drehst dich jetzt sofort um, wendest dich ab mit Grausen. Dieses ungetünchte, verwahrloste Haus war einst ein Bahnhof, jetzt werden die Ratten und Mäuse verhungern, die sich hier noch herumtreiben.

Nein, kein Bahnhof. Nie einer gewesen. Fernbusse starten hier. Einer nach dem andern. Viele. Unglaublich viele. Neben diesem sogenannten Fahrplan hängen – das bemerkst du jetzt - hinter Glas amtliche Verordnungen, Verlautbarungen der im Gemeinderat vertretenen Parteien, Öffnungszeiten des Wertstoffhofs, ja, auch den gibt es hier!

Nun dreh dich wirklich um, aber vorsichtig. Achte auf deine Haltung, deinen Gesichtsausdruck. Da entfaltet sich hinter dir die Fülle dieses Ortes, dieses Marktes, solltest du besser sagen: die schmucke Kirche, daneben das Wirtshaus mit einem beträchtlichen Biergarten, in dem gutgelaunte Männer sitzen, lärmen und sich zuprosten, genüsslich trinken, aufstoßen. Die Frauen sind in der Kirche, es ist ja Sonntag, Zeit für die Messe. Die Stimmung der von ihren Frauen befreiten Männer ist ausgezeichnet. Wie in Salven breitet sich von Tisch zu Tisch Gelächter aus.

Da merkst du plötzlich: du bist gemeint:

Steht da einer wie der Ochs vorm Berg vor einem alten Fahrplan aus der grauen Vormerkelzeit. Schau! Jetzt hat er sich umgedreht. Habt ihr gesehen, was der für ein Gesicht macht! Ein Volldepp.

Sie winken, fast aufdringlich: He! Hock dich her, Bursch! Du kommst hier sowieso nirgendwohin!

In deiner Verwirrung reagierst du nicht, hörst nicht einmal das laute Motorengeräusch.

Jetzt rast ein Bus mit Karacho vorbei, unterbricht für Sekunden den Blickkontakt zu den Spöttern. Lautes Gejohle.

Warum hat der Bus nicht gehalten?

Warum hätte der Bus halten sollen?

Hätte … Schon wieder!

Komisch, nicht?



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