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einhorn insel der seligen

Offener Vollzug


Der Gefangene ist entflohen, das entspricht den Tatsachen.

Auch nach strenger Befragung wollen die Mithäftlinge keinerlei Andeutungen seitens des Geflüchteten gehört haben. Die Hochsicherheitsgefangenen werden in diesen einzeln stehenden Haftkomplexen verwahrt, nehmen aber an der Hofzeit teil. Wir achten die allgemeinen Menschenrechte.

Die für den Bau unserer Anstalt verwendeten Materialien sind solide, sie widerstehen zuverlässig jedem Versuch, sich mit Werkzeugen einen Durchschlupf zu verschaffen. Schmuggeln von solcherlei Gegenständen wie – ich muss schmunzeln – Feilen im Brot ist von vorne herein sinnlos, könnte aber ohnehin unsere Kontrollen nicht überwinden.

Es gibt keine Risse in dieser Einheit. Die sichtbaren Vertiefungen sollen den Häftling verleiten, das Hochklettern zu versuchen, was aber aussichtslos ist angesichts der Höhe. Außerhalb dieser Mauern liegt rundum ein freies, kameragesteuertes Schussfeld.

Eine Flucht durch das seitlich vorne gelegene, abgesenkte Loch im Boden, das als Toilettenersatz dient, ist absolut unmöglich, die Öffnung ist kleiner als ein Kinderkopf, von gleicher Enge sind die Röhren. Noch weniger kommt die gegenüber in die Wand eingelassene Duschdüse mit Trinkwasserspender in Frage.

„Offener Vollzug“ bezieht sich darauf, dass der Gefangene permanent den Himmel sieht. Das wird ihm allerdings kaum behagen, denn er muss Unbilden der Witterung ertragen. Dieser scheinbare Blick in die Freiheit wird ihn auf lange Sicht deprimieren und für die Verhöre schwächen.

Die vierte Wand ist verschiebbar, denn dieses spezielle Bauwerk dient gleichzeitig als Pranger. Das ist der zweite Aspekt des „Offenen Vollzugs“. Selbstverständlich wird diese Öffnung außerhalb der Besuchszeiten geschlossen und ausbruchssicher verriegelt. Besuchszeiten sind zugleich (erlauben Sie den scherzhaften Ausdruck) Fütterungszeiten, so dass kein weiterer Zugang nötig ist.

Der Häftling wird zur Schau gestellt, der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Als Rechtsstaat, der wir sind, müssen wir allerdings jegliche Selbstjustiz untersagen und eine Verletzung dieser Grundregel streng bestrafen. Nicht einmal Papierkugeln dürfen auf den Delinquenten geschleudert werden. Sprachäußerungen sind dagegen uneingeschränkt erlaubt. Wie im Zoo trennt ein tiefer Graben von enormer Breite den Insassen der Einheit von seinen ungebetenen Besuchern. Wächter stehen schussbereit. Eine Geiselnahme ist unmöglich.

Ebenso wenig kann nach menschlichem Ermessen auf diesem Weg eine Flucht gelungen sein. Wie hätte der Gefangene den Graben überwinden sollen? Höchstens durch Sabotage. Dann müssten der Schließmechanismus, sämtliche Bewegungsmelder, Infrarotkameras sowie die Selbstschussanlage ausgefallen sein.

Ein Sabotageakt. Schreiben Sie das! Alle Überlegungen laufen darauf hinaus.

Wir verdächtigen deswegen in erster Linie Helfershelfer aus unserem Personal. Wir setzen die effektivsten Verhörmethoden ein. Es gibt zahlreiche Spuren, aber vorläufig keinen schlüssigen Beweis. Schreiben Sie getrost auch das!

Fragen?

Nein, der Delinquent hat keine Graffiti hinterlassen. Warum fragen Sie? Gehören Sie zu denen, die mit tiefschürfenden Untersuchungen von Gekritzel und Geschmiere einem offenkundigen Übeltäter ein psychiatrisches Alibi verschaffen wollen? Wir halten uns an Tatsachen, meine Dame.

Nein, wir können im Interesse der Ermittlung nicht angeben, wie viele Damen und Herren des Personals sich bereits in Untersuchungshaft befinden.

Eine Verschwörung? Ich bitte Sie! Das ist völlig ausgeschlossen.

Ja, der Entflohene hatte auf das allerschärfste den Staat, unseren Staat, unser aller Staat, kritisiert. Aber er stand allein. Wo bitte wären denn seine Gefolgsleute, seine Unterstützer? Zeigen Sie mir doch nur einen, einen einzigen!

Das Volk? Da muss ich wieder lachen. Dann wäre das Volk reif fürs Gefängnis. Das, meine Herrn, würde in der Tat unsere Gefängniskapazität ziemlich überbeanspruchen.

Ob es sein könnte, dass gegen den Gefangenen aufgebrachte Wachleute ihn mutwillig hingerichtet und die Leiche beseitigt hätten? Ich sagte bereits, dass Selbstjustiz außerhalb unseres Wertesystems steht. Es wäre im Übrigen niemals unentdeckt geblieben. Das können wir kategorisch ausschließen. Allerdings, gestatten Sie mir die Anmerkung, wäre es wirklich so geschehen, hätte ich und hätten sicherlich auch Sie alle für ein solches Handeln (das ja im Grunde ein staatstragendes gewesen wäre) Verständnis gehabt. Nichtsdestotrotz würden Sie mit mir darin übereinstimmen, dass für derlei Fehlverhalten eine angemessene Strafe fällig würde.

Eine Befreiung aus der Luft? Haha, Sie meinen durch den lieben Gott? Ein guter Witz zum fröhlichen Beschluss. Lassen wir Gott doch seine anerkannt unerforschlichen Wege gehen. Meines Wissens verfügt er nicht über einen einzigen Hubschrauber, meine Herren. Die haben wir.

Die Pressekonferenz ist beendet. Ich danke Ihnen.

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