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einhorn insel der seligen

Vergatterung


Steh gerade. Wie die Ziegel der Mauer, die ich gebaut, wie die Blätter, die es tun um meinetwillen.

Gut so. Die Arme hängen lassen wie absichtslos, die Finger sollen baumeln ohne den Gedanken, nach etwas zu greifen. Die Beine durchgedrückt. Ja. Die Kleidung entspricht dem Anlass. Aber Achtung, dein Haar. Es verklebt. Es braucht mehr Pflege.

Höre. Du sollst werden wie ich. Nicht so unermesslich groß, natürlich. Über diesen Gedanken können wir beide herzlich lachen. Dein Stoffwechsel würde versagen, dein Gehirn platzen. Auch meine Macht teile ich nicht mit dir. Dein kleiner Geist würde versagen und fiele in Irrsinn.

Aber sieh mich an: der Mund unbewegt, dabei stets bereit zum Sprechen, doch meist der Sprache nicht bedürftig, um zu befehlen; die tadellosen Bögen der Augenbrauen; kein Blinzeln oder Zwinkern, sondern der unverwandte Blick, der dich übrigens nur streift, doch unfehlbar integriert in meinen Kosmos. Dazu die Stetigkeit des Ausdrucks, keine aufgeblasenen Backen, kein Runzeln der Stirn, keine vorgestülpten Lippen, nicht einmal Augenbewegungen. Ich fixiere dich nicht, doch ich halte dich fest.

Es kommt dir seltsam vor, dass ich dir ähnlich sehe, ausgestattet mit menschlichen Zügen und einem menschlichen Körper. Und mit kleinen Defekten: die Warze auf dem Ohrläppchen, der schräge Grat auf der kerzengeraden Nase, ein Tränensack. Glaube ruhig an solche Gemeinsamkeiten. Sie werden dir helfen, deine Aufgaben zu erfüllen. Es ist angenehm, sogar tröstlich, anzunehmen, dass deine Oberen gewisse Eigenschaften und Bedürfnisse mit dir teilen. Du musst aber wissen, dass sich daraus keine Ansprüche ableiten lassen. Äußerlichkeiten dürfen dich nicht in die Irre führen. Verbrüderungen wird es nicht geben.

Deine Aufgaben wirst du erfüllen mit all den anderen, die mein Blick gleichzeitig mit dir erfasst, die du aber noch nicht wahrnehmen kannst. Fasse dich also in Geduld. Übe dich im Schweigen.

Die Belehrung ist damit beendet.

Abtreten wirst du erst, wenn ich dir ein Zeichen gebe. Noch hast du Muße, mich zu betrachten.

(Exponat Stephan Balkenhol, Elisabethkirche, Kassel)

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